Fest des Evangelisten Matthäus, 21. September 2020
Fest des Evangelisten Matthäus, 21. September 2020 – Der Einzelne – Im Namen des Vaters + des Sohnes + des Heiligen Geistes Es gibt Bewegungen, Zirkel, Orden, Gemeinden, Pfarren. Es gibt Demonstrationen, die alle vereinen, Esoteriker und Nazis gleichzeitig. Es gibt Gemeinschaften aller Art. Und die Einsamen? 40 % aller Wiener bezeichnen sich als Singles. Fast die Hälfte aller Bewohner dieser großen Stadt lebt also allein. Und bei vielen heißt das wirklich allein. Sie gehen morgens arbeiten und am Abend nach Haus, aber sonst sprechen sie wochenlang mit keinem Menschen. Sie haben kein volles Adressbuch wie wir, sie gehen in kein Kaffeehaus, in keinen Verein, sie sind wirklich allein. Was ist mit denen? „Die sollen irgendwo mitmachen.“ In der Tat. Wenn mir jemand sagt: „Ich bin so einsam!“, würde ich gerne antworten: „Gehen Sie in die Kirche!“ In der Kirche sind immer Menschen. Spätestens beim fünften Mal wird man Sie schon grüßen und beim zehnten Mal fragen, ob Sie nicht bei der Gruppe „Töpfern mit Kartoffelsalat“ mitmachen. Aber Kirche, das kommt halt für viele gar nicht in Frage. Da bleiben sie doch lieber allein. Und maunzen. „In jener Zeit sah Jesus einen Mann am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir! Da stand Matthäus auf und folgte ihm.“ – Die Szene spielt in einer Stadt des Orients. Ist es vorstellbar, dass Jesus und Matthäus in diesem Moment allein waren? Dass es um sie herum still war? Nein, das ist nicht vorstellbar. Wir sehen Schieben und Drängen auf der Straße, wir hören Geschrei, wir sehen den Zöllner umringt von Bekannten, Kollegen, Klienten, mittendrin, beschäftigt, rechnend, schwatzend, streitend … und da kommt, mitten in diesen Wirbel hinein, in all die vielen Menschen ein Wort: „Du!“ – „Du da! Folge mir!“ Und es wird still. In genau diesem Moment wird aus Matthäus ein Einzelner. Bis dahin war er Kumpel, Komplize, Bürger, Zöllner, Vater, was weiß ich; einer, der zu anderen gehört. Jetzt gehört er zu niemandem mehr. In dem Moment, wo er hört und aufschaut, hat er sie alle verlassen, alle um sich herum – und den anderen, Jesus, hat er noch nicht erreicht. Matthäus ist allein, auf dem Weg fort von der Menge, hin zu Christus. Matthäus ist in diesem Moment der Einzelne. Der Moment wird enden. Am Abend wird Matthäus sein Haus voller Gäste haben, Jesus darunter. Bald wird er zur Gemeinschaft der Zwölf Apostel gehören, um die herum sich die noch größere Gemeinschaft der Kirche sammelt. Er wird weiter zu seinem Volk gehören, den Juden, er wird dem Staat Steuern zahlen, er wird mit anderen beten, losziehen, sprechen und doch wird er ein Einzelner sein, immer wieder. Jesus hat ihn herausgerufen. Viele lassen das nicht zu. Sie brauchen die Masse. Sie müssen mitlaufen, mitschreien, mitposten. Wenn der Moment kommt, wo sie allein sein könnten, drehen sie den Fernseher auf oder den Rechner oder greifen sich die grauslige Illustrierte im Wartezimmer. Sie fürchten den Moment, in dem es still wird. Die Menschheit wird Masse. Sie wird Publikum. Sie weiß nichts mehr von sich selbst; sie hat Meinungen und Moden, aber kein Gewissen. Die Menschheit vermisst das Stadion und die Wiesn und die Umarmungen. Matthäus kann keinen umarmen. Er sitzt und hört und schreibt. Das Evangelium. Matthäus kann nicht drunten stehen bei den anderen und nur zuhören. Er muss hinauf, vor die anderen hin und predigen. Allein. Denn er ist ein Apostel. Matthäus findet keinen, der mit ihm geht und keinen, der es ihm abnimmt. Er, er stirbt. Denn er ist ein Märtyrer. Wer schreibt und verkündet und stirbt, ist immer ein Einzelner. So sehr die Kirche Gemeinschaft ist, sie ist doch gegründet auf Einzelne. Auf den Moment, wo ein Geheimnisvoller eintritt, dich anblickt und sagt: Du! Komm! Ein Einzelner tritt auf dich zu und du wirst selbst ein Einzelner. Du wirst dir selbst zur Aufgabe. Das geschieht in der Masse nie. Die Szene der Berufung des Matthäus sagt: Werde dir bewusst, ein Einzelner zu sein. Geh fort von deinem Publikum, fort von den Bildschirmen, Heurigen, Cocktails, Gebetsgruppen, immer wieder. Ein Einzelner sein, das heißt, ein Gewissen haben wollen. An sich selbst arbeiten. Es geht nicht um den Individualismus, der egozentrisch um das eigene Ich kreist. Nicht darum, sich in das eigene Spiegelbild zu verlieben. Nicht um die, die sagen: „Ich muss jetzt auch mal an mich denken.“ Oder: „Ich bin die Marke, die ich trage. Ich habe 40.000 Follower.“ Es geht ihm um den Einzelnen, der vor Gott steht und der sich bemüht, durchsichtig zu werden für sich selbst. Durch den Einzelnen tritt Gott in diese Welt. Maria war allein in jenem Moment… Die Gemeinschaft entsteht aus Einzelnen. Aus verschiedenen Berufungen, aus Prophetinnen, Hirtinnen, Lehrern… In der Gemeinschaft hat das, was einer lebt und sagt, hat der Einzelne Bedeutung für die anderen. Der Einzelne behütet die Gemeinschaft davor, bloße Menge zu werden. „Da stand Matthäus auf und folgte ihm.“ Der Mann geht allein durch die Tür, hinter Jesus her. Allein geht er hinaus in die Kirche. Zum mündlichen Vortrag bestimmt, verzichtet dieser Text auf Quellenangaben. Jede Vervielfältigung und Veröffentlichung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Autors. Die Predigt zum Download finden Sie hier!Die Predigt zum Anhören