Allerheiligen 2020
Allerheiligen 2020 Im Namen des Vaters + des Sohnes + des Heiligen Geistes Ich bin in Bedrängnis, Du bist in Bedrängnis. Er, sie, es ist in Bedrängnis. Es geht uns schlecht. Natürlich gibt es Schlimmeres, und ich weiß: Wir klagen auf hohem Niveau, und Sorgen gibt es immer. Ich weiß auch, dass nicht wenige in die Kirche gehen mit der Erwartung, hier wenigstens eine halbe Stunde lang nichts von Problemen zu hören. Sie sollten besser ins Kino gehen oder zum Heurigen. Die Kirche kann mit keiner Party konkurrieren; jedes Kind weiß das. Die Kirche gibt es, weil es Bedrängnis gibt. Die Kirche gibt es, um den Ausweg zu finden. Kann sie das? Der Papst ruft zur Solidarität auf, die Diözese erlässt neue Corona-Regeln, mir schlägt der Kopf auf die Tischplatte. Diese Kirche langweilt mich. Aber die Hl. Schrift, die reißt mich. Die Hl. Messe erhebt mich. Die Lesung aus der Offenbarung macht eine Gegenüberstellung: Hier ist Chaos. Angst, Gewalt, Krieg (was davon wäre erfunden?). Auf der anderen Seite: die wunderbar geordnete Welt des Hl. Geistes, der himmlische Gottesdienst. Die Seligen. Im Vordergrund also alles, was wir jetzt erleben, sehen und hören, laut und blutig. Im Hintergrund: das Reich Gottes. Und damit die eine große Frage: Illusion oder Realität? Ist hinter dieser Welt etwas oder nichts? Dass Sie sich Katholiken nennen, garantiert nicht, dass Sie eine Entscheidung getroffen haben. 2019, Umfrage in Deutschland: nur 28 % der Katholiken glauben an die Auferstehung. Was glauben Sie? Was glaubt Ihre Familie? Ist hinter dieser Welt etwas? Ja oder nein? Ist das Reich Gottes eine Realität oder ein Traum? Die Antwort gibt kein Buch, kein Experiment, keine Autorität, nur der Glaube. Der Glaube ist das Erste; an ihm hängt alles andere. Der eine glaubt: Es gibt nur dieses Leben hier, mehr nicht. Der andere glaubt: Diese Welt ist nicht das letzte Wort. Beide glauben. Der eine glaubt: Die Maßnahmen gegen die Pandemie sind richtig; der andere glaubt das nicht. Beide stehen vor einer Unzahl an Daten, Aussagen, Informationen. Keiner kann alle überblicken, geschweige denn verstehen. So kommt jeder an den Punkt, wo er glauben muss. Wo er sich entscheidet für eine bestimmte Sicht der Dinge. Wir glauben, weil wir nicht wissen können. Alle. Wissenschaftler glauben. Vielleicht nicht an Gott, aber daran, dass diese Daten stimmen. Auch die Verschwörungstheoretiker glauben. Sie haben Indizien, aber keine Beweise, die jeder akzeptieren muss. Wer ein Buch liest, glaubt dem Autor; wer zur Untersuchung geht, glaubt dem Arzt; wer verreist, glaubt dem Fahrplan. Wir können nicht alles überprüfen. Schlussendlich müssen wir glauben: Es wird. Es wird einen Ausweg geben aus der Krise. Wir entscheiden uns, zuversichtlich zu sein. – In dem Moment, wo wir das tun, sind wir in der Nähe der Heiligen. Die Heiligen haben sich entschieden zu glauben: Das Reich Gottes ist mitten unter uns. Doch die Entscheidung zu glauben, ist in Wahrheit der zweite Schritt. Die erste Entscheidung von allen ist: Ich. Ich bin. Ich habe Verantwortung. Für mein Leben und für diese Welt. – Das ist nicht Egozentrik und Narzissmus. Nicht: „Ich muss jetzt auch mal an mich denken.“ Die Heiligen drehen sich nicht im Kreis um sich selbst: Sie treten hinaus. Raus aus der Masse, fort vom Publikum. Sie werden Einzelne. Ein Einzelner sein heißt: ein Gewissen haben wollen. – Das Publikum hat kein Gewissen. Das Internet hat kein Gewissen. Ein Einzelner sein heißt: sich selbst zur Aufgabe werden. Der Einzelne steht vor Gott. Stellen Sie sich hin vor Gott, das genügt; alles Weitere geschieht. Wir erleben den Zerfall. Jeder gegen jeden. Zu einer neuen Gemeinschaft kommen wir nur über den Einzelnen. Also weg von der panischen Menge. Entscheidung, Glaube, Mut, Verantwortung und Gnade: Das sind die Heiligen. Heiligkeit ist nicht privat, nicht beschaulich, nicht Chips und Tinder. Die Heiligen sind Kämpfer. Die nicht verdrängen, dass es die Katastrophe gibt und das Dilemma und das schlechte Gewissen und die falsche Hoffnung. Die Heiligen kennen Mühe, Selbstüberwindung, Anfeindung, Einsamkeit. Sie machen aber auch Erfahrungen, die andere nie machen; sie sehen einen Himmel, den andere nicht sehen; sie erleben eine Gottesnähe, die unbeschreiblich ist. Heilige kommen aus der Stille – und bleiben still in dem Wirbel, den sie anrichten. Die Heiligen sind die, die in dieser Welt zur anderen Welt gehören – und so diese Welt hier aufmachen. Wissen Sie, wie schön der Moment ist, wenn man auf einen Menschen trifft, der aufmacht? Der den Vorhang beiseite zieht und das Licht einlässt? Seien Sie solche Menschen! Die Heiligen machen mein Leben hell, immer wieder. Die Toten machen nichts mehr. Für die meisten fallen Allerheiligen und Allerseelen ineinander (und jetzt mischt sich auch noch Halloween hinein). Aber was ein Unterschied zwischen den Heiligen und den Toten! Für die Toten sind wir da. Sie brauchen uns, dass wir für sie beten. Die Heiligen hingegen sind für uns da. Der Mensch ist keine Marionette Gottes, sondern sein geliebtes Kind, und Gott erlaubt dem Menschen, mit ihm zusammen zu handeln. Wir feiern deshalb heute etwas, was Protestanten niemals feiern können: die Werke der Heiligen, ihre Verdienste und ihre Fürsprache. Eine „große Schar aus allen Nationen und Stämmen“ bittet für uns, „niemand kann sie zählen.“ Das Wesentliche ist nicht zu sehen, aber es ist da. Die Heiligen sehen wir nicht. Wir sehen Bedrängnis, Pandemien, Streit, Terror. Aber die Heiligen sind da. Bei uns. Amen. Zum mündlichen Vortrag bestimmt, verzichtet dieser Text auf Quellenangaben. Jede Vervielfältigung und Veröffentlichung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Autors. Die Predigt zum Download finden Sie hier!Die Predigt zum Anhören