Souveräner Ritter- und Hospitalorden vom heiligen Johannes zu Jerusalem von Rhodos und von Malta

Aktuelles

Montag der 12. Woche im Jahreskreis, 22. Juni 2020

22/06/2020 


Die Predigt zum Anhören

Ich richte.

Im Namen des Vaters + des Sohnes + des Heiligen Geistes

Ich gehe auf der Straße und richte. Ich sitze im Zug, sehe die Mitreisenden und richte. Ich lese Zeitung und richte wieder. Andere sind liebevoll oder phlegmatisch oder gleichgültig oder wirklich vornehm, – ich richte über Menschen. Sie sind grauenvoll angezogen, sie haben keine Manieren, sie reden Blödsinn. Ich bin ständig bei anderen statt bei mir. Ich mache pausenlos Ordnung – und die Welt klein. Wer richtet, macht die Welt Gottes klein.

„In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern.“ Die übliche Einleitungsfloskel der Evangelien. Diesmal lohnt es sich wirklich, sie genau zu hören. Es ist wichtig zu realisieren, zu wem Jesus da spricht. Nicht zur Menge, nicht zu den Leuten; er spricht zu seinen Jüngern. Offenbar ist es an der Zeit, diesen Männern und Frauen zu sagen: „Richtet nicht!“ Daraus können Sie schließen, dass die Jünger Jesu genau das taten: Sie sprachen ihr Urteil über andere. Sie waren Richter, sie wussten Bescheid, sie stellten fest; vielleicht waren sie auch bereit, Strafen zu verhängen. Die, die Jesus nachfolgen, tun also, was die Leute tun: Sie richten.

Jesus will das nicht. Warum? Mag er’s einfach nicht? Ist Jesus liberal? Indifferent? Tolerant? Zu kultiviert, um über andere zu urteilen? – Jedes Wort Jesu kommt aus Tiefen, von denen wir keine Ahnung haben. Im Johannes-Evangelium heißt es: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (3,17). Das gibt den Ton. Richtet nicht: Dieses Wort kommt aus dem Herzen Jesu. Aus Gott. Der rettet, nicht richtet.

Wen habe ich gerettet? Wie viele habe ich gerichtet?

Jesus gleicht unsere Welt der Welt Gottes an. Jesus spricht mit seinen Jüngern von der neuen Schöpfung. Es gibt eine neue Art des Umgangs mit den anderen und uns selbst. Das Gericht der Menschen endet. Es beginnt das Erkennen. Es geht zu auf den tiefsten Wunsch, den jeder Mensch hat: erkannt zu werden; wahrgenommen zu werden als der, der er wirklich ist. Ganz, nicht immer nur in Teilen. Dieses tiefe Erkennen ist so viel mehr als ein flinker Richtspruch!

„Richtet nicht!“, heißt nicht: Es gibt nichts zu richten, weil es keinen gültigen Maßstab gibt. Das Wort Jesu führt nicht zu postmoderner Beliebigkeit oder stillschweigender Dekonstruktion aller Werte. Dass es für Jesus Werte und Maßstäbe gibt, liegt auf der Hand. Aber um die geht es hier nicht. Es geht darum, dem anderen wirklich gerecht zu werden. „Ich will aufhören zu richten“, heißt dann: Es gibt eine Wahrheit des anderen, aber ich kenne sie nicht gut genug, um ihn zu richten. Es gibt einen Richter, aber das bin nicht ich. Ich bin nur ein Gerichteter wie die anderen. Und ein Geretteter.

Was geschieht in dem, der das Wort Jesu befolgt? Er willigt ein zu warten. Er sieht den anderen und macht vor ihm halt, geht nicht bis zum Letzten. Er lässt dem anderen sein Geheimnis. Er ist bereit, die Wahrheit und das Urteil von Gott zu empfangen und nicht selbst zu fabrizieren. Wer das Wort Jesu annimmt, hat eingesehen: Mein Gericht ist immer falsch, denn ich kenne den anderen nie ganz. Das Gericht Gottes hingegen ist wahr, weil Gott den Menschen ganz sieht, in einem einzigen Blick. Wer auf Jesus hört, instrumentalisiert nicht. Nicht den anderen, nicht Gott. Er will nicht. Er wartet.

„Richtet nicht!“ Wer das annimmt, versteht: Richtet auch euch selbst nicht. Seid nicht überlegen, seid nicht endgültig, seid einfach wahr. So wahr, wie es ein Mensch eben sein kann.

Geht es also zuerst um mich? Bedeutet das Wort Jesu bloß: Kehre vor deiner eigenen Tür? Geht es nur um Selbstkultivierung? Um neoliberalen Egoismus? „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ Wer genau hinhört erkennt: Die Richtung geht hin zum Bruder. Zur Gemeinschaft. Jesus spricht gegen das Werten und für die Gemeinschaft. Er formt einen neuen Umgang aus Enthaltung, Respekt, Warten und Wachen. Der Christ soll wachen, aber nicht zugreifen. Leer werden, nicht anhäufen, auch keine Urteile.

In der Lesung aus dem Zweiten Buch der Könige heißt es: „Kehrt um, achtet auf meine Gebote, genau nach dem Gesetz.“ Das ist es, was wir tun können. Die Geschichte oder den Menschen verstehen und richten, das können wir nicht. Es gibt in dieser Welt zu viele Bilder und Leben und Perspektiven und Grenzen. Wie könnten wir dieser Fülle gerecht werden?

Beide Texte formen einen Menschen, der unbeirrt handelt. Der einfach gut ist. Aber nicht stur und borniert, nicht übergriffig. Weil der Heilige weiß, dass alles vorläufig ist, dass er immer nur einen Teil kennt und versteht.

„Richtet nicht!“ Der Mensch hört hier, wie Jesus ihm sagt: Hab Acht auf deine Gedanken. Richte nicht, verachte nicht. Denn die Verachtung ist der schlimmste Richtspruch von allen. Richte nicht, sondern verehre. Denn dieser andere Mensch dort ist mein Geschöpf und mein geliebtes Kind. Das ich retten werde.

Zum mündlichen Vortrag bestimmt, verzichtet dieser Text auf Quellenangaben. Jede Vervielfältigung und Veröffentlichung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Autors.

Die Predigt zum Download finden Sie hier!

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