6. Tag der Weihnachtsoktav, 30. Dezember 2019
Im Namen des Vaters + des Sohnes + des Heiligen Geistes Sie stecken im Kalender. Morgen Sylvester! Heute ein Tag in der Oktav von Weihnachten. Übermorgen schon das Jahr 2020. Gott kennt keinen Kalender. Gott ist immer jetzt. In beiden Lesungen heute viel Zeit, viel Leben. Kindheit, Jugend, Alter. Tage, Nächte. Das Leben fließt. Es fließt weg. Weg von uns vielleicht, woanders hin. Die Frau, von der das Evangelium spricht ist alt. „Hochbetagt.“ Einst war sie ein junges Mädchen, dann war sie eine Frau, Ehefrau, dann Witwe… Alle diese Namen sagen vor allem eines: Die Zeit vergeht. Da war viel Leben, in all den Jahren. Aber seltsam: Viel Leben ist zugleich wenig Leben, zu kurz, nur eines, wo man doch vielleicht gerne vier, fünf Leben hätte, gleichzeitig, um alles auszuschöpfen, was das Leben anbietet und alles, was in einem ist, alle Fähigkeiten, Wünsche, Träume. Wir sind alle so viel Leben – und wenig Leben. Jetzt scheint das Leben dieser Frau still zu stehen. Ständig ist sie im Tempel. Jeden Tag das Gleiche, jede Nacht das Gleiche. „Sie diente Gott.“ Mit Fasten und Beten. Die meisten können sich nicht vorstellen, dass das viel Leben sein kann: Gott dienen. – Wieso verbinden die Leute Gott mit wenig und Beruf, Ehe, Familie, Reisen, Leisten mit viel? Warum scheint ihnen das wahre Leben ganz woanders, aber nicht bei Gott? Ist Gott nicht unendlich? Kann es bei Gott etwas geben, das uns sagen ließe: Langweilig, kenn‘ ich schon? Gott, das sind immer neue Antworten, immer neue Fragen. Bilder, die verschwinden, Bilder, die aufleuchten. Und noch einmal tritt die Zeit zu uns: „Das Kind wuchs heran und wurde kräftig.“ Ein Leben, das geht, ein Leben, das kommt. Eine alte Frau, ein Kind. Nehmen Sie zum Evangelium noch die Lesung hinzu: Kinder, junge Männer, Väter; offensichtlich spricht der Apostel nicht von bestimmten Menschen oder Geschlechtern, sondern von den Lebensaltern. Uns geht auf, dass jeder Mensch alles zugleich ist: Kind, junger Mann, Vater. Kind, junge Frau, Mutter. Nichts von dem, was wir gelebt haben, verschwindet völlig; alles, was wir noch erleben werden, ist schon da. Auch der Tod. In den Lesungen dieses Festtages (denn alle Tage der Oktav sind Festtage) geht es um das Leben und die Zeit, um jung und alt und um Gott. Gott, der nicht jung ist und nicht alt, der keine Zeit ist und weit jenseits dessen steht, was wir Menschen als Leben erfahren. Entscheidungen, Begegnungen, Erfahrungen, Jahre, Tage, einzelne Stunden: Das ist Ihr Leben. Sie sagen: Wie schnell die Zeit vergeht! Nicht alle halten das aus. Sie wehren sich. Vielleicht denkt der Apostel an die, wenn er spricht von der Begierde des Fleisches, der Begierde der Augen und der Begierde der Welt. Begierde ist halten wollen, ganz fest, damit es nicht vergeht. Die Menschen, von denen das Evangelium erzählt, scheinen keine Begierde zu kennen. Die alte Frau ist einfach da, Tag und Nacht. Und die Eltern des Kindes? Das Evangelium erwähnt keine Reaktion. Sie hören, was die alte Frau über das Kind sagt; sie hören und schweigen. Sie tun, was sie tun müssen. Sie erfüllen das Gesetz und kehren in ihre Stadt zurück. Der Eingangsvers dieser Messe sagt: „Als tiefes Schweigen das All umfing, da stieg dein allmächtiges Wort vom Himmel herab.“ Ein Schweigen, das das ganze Weltall umfängt! Und in dieses Schweigen hinein: das Wort. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie das geht: der ewige Gott und die begrenzte Zeit; wie das geht, die Geburt Gottes „in unserem sterblichen Fleisch“ (Tagesgebet). Ich kann es nicht erklären und nicht denken. Dennoch weiß ich es, dennoch verstehen Sie. Denn Sie können sich denken ohne die Zeit. Mitten in dem vielen Leben, mitten darin oder dahinter oder unten am Grund (was tut das schon?) da ist Gott. Gott ist immer jetzt. Zu finden nur in all diesen Momenten, „in jener Zeit“. Unsere Erfahrungen und Entscheidungen sind echt; sie machen uns. Und dennoch gibt es die Ewigkeit. Irgendwo ist eine Ruhe. Der Plan und die Ruhe Gottes. Man kann sich denken ohne Zeit. Verborgene Tage, verborgenes Leben. Und wir merken nichts. Nous passons á côté. Die alte Frau wird immer einfacher, immer dichter. So kann sie den Erlöser erkennen. Der ja verborgen ist. In einem Kindlein. Der Erlöser wird nur von wenigen erkannt. Weil sie im Tempel lebt, in der Anbetung, weil sie die Zeit vergisst, ist sie zur Stelle, als Jesus erscheint. Zum mündlichen Vortrag bestimmt, verzichtet dieser Text auf Quellenangaben. Jede Vervielfältigung und Veröffentlichung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Autors.