Dienstag der 31. Woche im Jahreskreis (Montag, 6. November 2017)
Im Namen des Vaters + des Sohnes + des Heiligen Geistes Ein Horror-Evangelium – für mich wenigstens. Gegen alle meine Instinkte, gegen jeden Geschmack. Der Weg, den es zeichnet, führt von der Elite zum Gesindel. Von den frommen Juden – sie sind ja gemeint mit den zuerst Geladenen – zu allem, was so auf den Straßen dahin treibt. Der Weg führt von der höflichen Einladungskarte zum Gedränge. „Dränge, nötige die Leute“, sagt der Herr zu seinem Diener. Manche haben sogar übersetzt: „Zwinge die Leute!“ Das geht gegen jede Höflichkeit, gegen Takt und Dezenz. Ich fürchte kaum etwas mehr, als für aufdringlich gehalten zu werden. Jesus fürchtet sich vor gar nichts. Was wir mit „Straße“ verbinden und meiden, scheut er nicht. Er scheut sich auch nicht, zudringlich zu werden, zu drängen. Eigentlich tut Jesus mit uns genau das, was der Mann im Evangelium seinen Leuten aufträgt: Er nötigt uns. Denn wir müssen ja hinter ihm drein. Das nennt man „Nachfolge“. – Und schon stehen wir wieder vor der Grundfrage: Warum sollte ich, Jesus zuliebe, Wege gehen, die mir peinlich, zuwider sind? Ich weiß im Moment keine andere Antwort als diese: Wenn man einen liebt, geht man ihm nach, mit ihm mit, ziemlich egal wohin. Wer nötigt, wer drängt? Der Indiskrete, der Distanzlose. Sie kennen die Art; wir leben in übergriffigen Zeiten. Da ist aber noch einer, der drängt: Der nämlich, der liebt. Selbst wenn er alle Ruhe der Welt gibt, sich zurücknimmt, zuwartet, schweigt: In ihm ist ein Drängen. Liebe drängt („die Liebe Christi drängt uns“, 2 Kor 5,20). Die Liebe drängt, das ist ihre Natur. Noch etwas drängt: die Wahrheit. Es braucht viel üble Kraft, der Wahrheit zu widerstehen. Die großen Bewegungen der Geschichte erzählen von nichts anderem als vom Drängen und vom Widerstand, von Auf und Ab, bis sich schließlich wieder ein Stück mehr Wahrheit durchgesetzt hat. Oder ist es denkbar, wir könnten eines Tages wieder mit Überzeugung sagen: dass Menschen als Sklaven verkauft werden, dass Frauen weniger Rechte haben als Männer, dass ein Mann eine Nation besitzen kann, das alles ist die Wahrheit, es ist gut? Und noch etwas drängt: Die Schönheit. Wer könnte Tönen, Bildern, Worten auf Dauer widerstehen? (Ich bin sicher: achtete die Kirche mehr auf die Schönheit, sie gewönne viele Menschen.) Die Welt ist also voller Drängen, und dieses Drängen, das aus der Natur der Liebe selbst kommt, scheint mir auch die Lösung für das alte Problem dieses Evangeliums und der ganzen Kirche zu sein. „Nötige die Leute zu kommen“, „compelle intrare“: Das war Jahrhunderte lang das Wort, auf das man sich berief, wenn es darum ging, Häretiker in die Kirche zu zwingen. Es ging um die Fragen: Hat der Irrtum ein Recht? Ein Recht, für sich zu werben? Hat die Wahrheit das Recht zu zwingen, um ihrer selbst willen? Erst das Konzil im Vatikan hat es gewagt, das Wort „nötige die Leute“ nicht mehr als Rechtfertigung der Zwangsmittel anzusehen. Wie äußert sich das Drängen des Evangeliums? Die Lesung illustriert es: Im Tun, im Leben, in der Einfachheit. „Hat einer die Gabe der Rede, dann rede er“, schreibt Paulus. Das ist einfach, nicht wahr? „Hat einer die Gabe des Dienens, – dann diene er.“ Oder lehre oder tröste. Ohne Hintergedanken, freudig, eifrig, ungeheuchelt, mit einem Wort: lebendig. Wahr und gut zu sein, die eigene Berufung zu erfüllen, d. h. echt zu sein: Das allein drängt genug. Es braucht keine Tricks, keine Propaganda, keinen Zwang. Diese Einfachheit gibt Kraft. Kompliziertheit verschraubt sich. Es gibt so viele Katholiken, die sich verlieren in den Details und Finessen, darüber eifersüchtig werden, misstrauisch, kleinlich. Dabei kann man doch einfach tun, ernst, aufmerksam, immer und immer wieder, so sich läuternd. Ich spreche vom Ritus, aber Sie werden diese Erfahrung überall machen… Noch eine Frage: Worauf zielt das Drängen ab? Was ist das Ziel? Antwort: volles Haus. „Nötige die Leute zu kommen, damit mein Haus voll wird.“ Das Haus, um das es geht, ist von solchen Ausmaßen, so groß, dass es mit einer feinen, kleinen Gruppe gar nicht getan sein kann. Das Haus des Herrn ist die Schöpfung selbst. Das Universum, alle Zeiten, alle Räume. „Wir, die vielen…“, heißt es bei Paulus. Das ist der Maßstab: viele. Alle: die „Fröhlichen“ wie die „Weinenden“. „Dränge alle zu kommen…“ „Dränge!“, denn wer nicht kommt, wer draußen bleibt, ist verloren. – Damit ist nicht der katholische Taufschein für alle gemeint. Es geht um die Menschen-Gemeinschaft, das Haus der Wahrheit und der Schönheit, der „gegenseitigen Achtung“. Was soll aus dem werden, der sich von all dem ausschließt? Also muss man drängen. „Passons aux barbares“, rief der hl. Frédéric Ozanam im 19. Jahrhundert. „Gehen wir zu den Barbaren“, „laufen wir über zu ihnen“, zu den vielen, die uns fremd sind und entgegen, die unsere Zeit prägen. Sie drängen, damit sie keine Barbaren bleiben, sondern Christen werden in der Kirche, echte, verantwortliche, edle Bürger im Staat, freie Kinder Gottes. Es müssen nicht alle denken, reden und aussehen wie wir. Aber alle müssen gut sein. „Wir, die vielen, sind ein Leib in Christus“, schreibt Paulus. Es braucht keine Uniformität, es brauch Einheit. Die eigene Berufung leben – Reden, Dienen, Lehren, Trösten, Geben, Barmherzigkeit tun – , sich von der Berufung drängen lassen, und das Haus wird voll. Zum mündlichen Vortrag bestimmt, verzichtet dieser Text auf Quellenangaben. Jede Vervielfältigung und Veröffentlichung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Autors.