Erstürmte Festung
Pandemien inmitten der Apokalypse. Von Bernhard Bachna In Form eines fesselnden historischen Romans schildert Autor Georg Reichlin-Meldegg das außergewöhnliche Schicksal der Stadt und Festung Przemyśl. Prädikat: absolut lesenswert! Heute liegt Przemyśl auf polnischem Staatsgebiet im äußersten Südosten des Landes. Zur Zeit der k.u.k.-Monarchie gehörte dieser Landstrich zu Galizien, gleich an der Grenze zu Russland. Von September 1914 bis Juni 1915 hatte die Stadt gleich drei massive Belagerungen zu überstehen. Historisch betrachtet waren diese die heftigsten Kämpfe um eine Stadtfestung im ersten Weltkrieg. Die gesamte zivile Bevölkerung – rund 55.000 Menschen – waren damals unmittelbar in Kampfhandlungen involviert. Entsprechend groß war die Versorgungsnot in den Feldspitälern und -apotheken. Der Nachschub an rettenden Medikamenten wurde zu einem zentralen Problem. Eindrucksvoll schildert der Autor den Alltag eines Lebens in unmittelbarer Todesgefahr; einem Leben flankiert von Cholera- und Typhus-Pandemien sowie einer unvorstellbaren Hungersnot. Kein Wunder, dass angesichts dieser Umstände die Moral der Armee und der Bevölkerung – in k.u.k-Zeiten stets hochgelobte Tugend – zu erodieren begann. Das Zusammentreffen von mehr als hunderttausend Soldaten mit jungen Frauen und Mädchen aller Schichten in der Enge der noch nicht beschädigten Häuser, war durch Familie und kirchliche Institutionen nicht mehr zu kontrollieren. Zudem wurde mit dem beinahe völligen Zusammenbrechen von industrieller Produktion, Kleingewerbe und Gastgewerbe das Überleben vieler Frauen zu einem echten Sicherheits-problem, wie Briefe und Niederschriften aus der Zeit belegen. Der Autor hebt aus all dem Elend eine leidenschaftliche Beziehung hervor und zeigt, wie die schrecklichen Umstände des Krieges und dessen Gewalt eine starke Liebe erst in den Abgrund führen und wie nach dieser Katastrophe eigene Wege folgen: Durch die Geburt eines Kindes entsteht Hoffnung in einer untergehenden Welt. Die Geschehnisse vor rund 100 Jahren zeigen in vielen Details eine erstaunliche Aktualitätsnähe. Das Buch ist ein im Erzählstil verfasstes, aber im Anhang belegtes Zeitdokument, das heutigen Generationen, die sich – auf hohem Lebensniveau – über aktuelle Zustände entrüsten, eindrucksvoll das Durchhaltevermögen der Großelterngeneration näherbringen kann. Georg Reichlin-Meldegg. Erstürmte Festung. Krieg und Liebe in Zeiten von Cholera und Typhus. Weishaupt-Verlag, Graz 2021, 336 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-7059-0536-8 1, 24,90 Euro. Dieses Buch haben wir in unserer Zeitung „Die Malteser“ – Ausgabe 2021/3 – vorgestellt!Erstürmte Festung
Hoffnung in einer untergehenden Welt